Grenzgebiete in der Geburtshilfe

Wo fängt unsere Verantwortung in der Geburtshilfe an und wo hört sie auf?

Es gibt eine gesellschaftlich geregelte Ansicht. Verantwortung bei einer Geburt übernimmt die begleitende Person. Was diese zu tun hat, ist scheinbar klar. Wo sie beobachten, in Ruhe lassen und zuwarten darf, ist nicht klar. Werdende Mütter sind in diesem Bild nicht mündig. Diese Ansicht hat mir schon immer Mühe bereitet. Die Verantwortung wird den einen genommen und den andern übergestülpt und es hat Züge angenommen, als wären die mit der Mehrverantwortung Götter.

 

Ich glaube nicht, dass ich für jemanden Verantwortung übernehmen kann, obwohl ich mir der gesellschaftlichen Situation bewusst bin. Ich kann durch meine Erfahrung und durch mein Wissen, eine Situation einschätzen, begleiten, unterstützen und meine Sicht einbringen. Es kann zu viel sein oder zu wenig. Die Verantwortung muss jede für sich selbst tragen. Mir hat es lange immer leid getan, wenn Frauen eine schlechte Erfahrung im Spital gemacht haben. Heute tut es mir zwar auch leid, aber ich sehe auch das wunderbare Angebot, welches Frauen in der Schweiz geboten wird, ihren Gebär-Ort, und damit ihre Gebärsituation selber wählen und gestalten zu können.

 

Es braucht den weiten Blick von aussen, um dem ganzen Geburtsprozess zu sehen.

Geburtsgeschichte: Schwangerschaftsübertragung, was nun?

Eine Kollegin übernahm eine Frau für die Schwangerschafts-, Geburts- und Wochenbettbegleitung. Diese Frau gebar am Termin plus zwanzig Tage. Bei Termin plus 10 Tage leiten die meisten Spitäler ein, aus Angst, die Frauen übertragen bis Termin plus 14 Tage.

 

Termin plus 14 ist eine Art magische Grenze.

 

Ab diesem Wert gelten die Kinder im Bauch der Mütter in Gefahr. Das kommt von den wissenschaftlichen Studien, die versucht haben anhand von exakten Daten Aussagen über das Leben zu erheben und sich dabei auf Zahlen stützen. Die Klinik, also die Symptome der Frau und des Kindes, werden nicht erhoben und spielen auch keine Rolle. 2016 wurde dem Geburtshaus die Kosten einer Geburt nicht bezahlt, weil sie eine Frau über dem Termin plus 14 Tage betreut hat, auch wenn diese Frau gut geboren hat. Die Regierung bat sogar die Krankenkasse, die Zahlung zurückzuhalten.

  • Der Arzt, der erst neu den Posten als Chefarzt übernommen hatte, der sich dem rechtlich-medizinischen Standard verpflichtet fühlt und auf gar keinen Fall ein rechtliches Verfahren riskieren will. Der mit seiner Haltung dem Wunsch der Frauen so gut wie möglich entgegenkommen will und die Kompetenz der Hebammen achtet.
  • Die Spitalhebamme, die findet, ab Termin plus 14 sei klar die Grenze zur Übertragung und eine Frau gehört in ärztliche Hände. Hebammen sollten ihre Kompetenz nicht zu sehr strapazieren, um nicht ihrem Ruf zu schaden. Woraus die Weisheit ersichtlich wird: sich an die gängigen Regeln halten, niemanden vor den Kopf stossen und seinen Weg in diesem System so gut es geht gehen. In der Unauffälligkeit erwächst ein Freiraum, in dem wir die Frauen am besten schützen können.
  • Und wir zwei selbständigen Hebammen, die finden, dass jeder Fall individuell betrachtet werden muss mit all seinen klinischen Zeichen, dem Wunsch der Frau und der Gesundheit des Kindes. Und die wir am liebsten die gesellschaftlichen Regeln umstossen möchten und die Frau im Mittelpunkt sehen wollen. Am Schluss fanden wir einen Kompromiss, bei dem wir bei Termin plus 14 alle zusammenkommen und mit allen Fakten ein weiteres Vorgehen besprechen. Das Gespräch war geprägt von einem grossen Respekt für den andern.

Dilemma: Geburtsmedizin - Intuition?

Ich finde, eigentlich sollte sich eine schwangere Frau unterstützt und begleitet fühlen dürfen. Stattdessen erfährt sie ein ideologisches Konstrukt von Unsicherheit und Angst.

 

Bei einer Zahl „ET+14“ kriegen einige Fachpersonen Angst, weil sie eine Statistik vor sich sehen und sich rechtlich nicht mehr geschützt fühlen. Die Angst ist so gross, dass sie keine Wahlmöglichkeit sehen, sondern nur noch in ein Notfallszenario verfallen. Die Zahl „ET+14“ hat aber mit der Frau und dem Kind vorerst gar nichts zu tun. Die Frau und das Kind fallen in den Begriff „Klinik“, das ist das, was wir sehen und beobachten können.

 

In diesem Fall ist die Klinik eine Frau, die bereits in der dritten Generation übertragene Kinder zu Welt bringt, die auch das erste Kind 18 Tage übertragen hat.

 

Eine Frau, die mit sich und dem Kind verbunden ist, sich wohl fühlt, warten kann und im Vertrauen ins Leben ruht. Und ein Kind, welches mit guten Kindsbewegungen anzeigt, wie es genügend Fruchtwasser hat, eine besorgende Plazenta schützt, Kraft und Energie gibt, um auch den Geburtsprozess gut zu überstehen.

 

Wenn sich nun keine Hebamme oder andere Person anbietet, die Frau zu begleiten, hat die Frau nur die Wahlmöglichkeit eines Kaiserschnitts oder einer „Alleingeburt“.

 

Beispiele von Grenzfällen

Diesen Fall von aussen zu sehen, liess mich erkennen, wie oft ich solche Grenzfälle betreue, die einen enormen Druck erzeugen. Da ist die Frau, die keinen Ultraschall will. Solche Fälle sind von der Verbandsjuristin zu Ablehnung empfohlen. Da ist die Zweitgebärende, die mit einem Gestationsdiabetes kam und dann schnell daheim gebar. Da ist die Frau mit dem grenzwertigen Blutdruck und den guten Zusatzkriterien. Und alle die verzweifelten Frauen, die Status nach Sektio eine andere Geburtserfahrung suchen.

  

Mit mir gibt es viele Hebammen, die versuchen die Frauen zu schützen. Weil es unserem inneren Empfinden zuwiderläuft, die Frauen in ihren schweren Zeiten allein zu lassen.

 

Aber was tun, wenn der gesellschaftlich-medizinische Druck auf die Hebamme so gross ist, dass sie sich nicht mehr getraut, die Frau zu schützen? Dann gibt sich die Frauen entweder der medizinischen Ansicht hin oder sie macht eine „Alleingeburt“.


Grenzgebiete in der Geburtshilfe - Teil 2, © Barbara Stemmler 2020

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